Erinnerungen an das alte Charlottenburg

Luisen-Andenken

Aus der Sonntags-Beilage der Charlottenburger Zeitung “Neue Zeit” von 1923. Teil 2: Waisenkindes Weihnachtsbaum – Das Charlottenburger Waisenhaus

Der zweite Teil der Serie vom 23.12.1923 beschreibt die Errichtung des ersten Waisenhauses von Charlottenburg. Nach der Cholera-Epidemie von 1831 stieg die Zahl der elternlosen Kinder enorm an, so dass, durch überwiegend private Spenden finanziert, bereits ein Jahr später ein erstes Heim jenseits der Spree eröffnet werden konnte. 1834 wurde es in ein Haus in der Schloßstraße 9 verlegt. Zehn Jahre später konnte das Waisenhaus als Stiftung “Luisens Andenken”, nun als städtische Einrichtung, ein Gebäude am Kirchplatz Ecke Scharrenstraße (heute Gierkeplatz Ecke Schustehrusstraße) beziehen. Den finanziellen Grundstock dafür hatte zuvor die Tochter der Königin Luise, Charlotte von Preußen, durch eine großzügige Zuwendung von 20.000 Talern gelegt. Ihren Namen erhielt die Stiftung nach der 1810 verstorbenen Mutter. 1905 wurde schließlich das noch heute existierende Haus in der Ulmenallee 50 in Westend eröffnet, heute Sitz der Mosaik-Werkstatt für Behinderte.
“In dem alten kleinen Charlottenburg erstrahlte am Weihnachtsheiligenabend, ebenso wie jetzt, der Weihnachtbaum in hellem Kerzenglanze und Glück und Zufriedenheit herrschte in allen Familien. Nur den armen unglücklichen Kindern, denen ein ungünstiges Geschick die Sonne der Mutterliebe und die feste leitende Hand des Vaters genommen hatte, deren Eltern in der Blüte der Jahre aus dem Leben gerissen und die verwaist waren, war diese Freude am Weihnachtsabend nicht immer vergönnt. In dem kleinen Städtchen hatte jeder mit sich selbst zu tun, jeder hatte einen schweren Kampf um seine eigene Existenz zu führen und erst im Jahre 1792 verlangte die Kammer zum ersten Male den Entwurf für einen Armenkassen-Etat.”

Das alte Waisenhaus am Kirchplatz (heute Gierkeplatz)

Das alte Waisenhaus am Kirchplatz (Gierkeplatz)

Mit der nun ins Leben gerufenen Armenkasse war zwar ganz kümmerlich für die Alten gesorgt, für die Waisen war aber so gut wie nichts geschehen. Standen die Kinder allein im Leben, so mußten sich entweder Verwandte ihrer annehmen; waren solche nicht vorhanden, nahmen sich entweder barmherzige Nachbarn ihrer an, oder aber sie wurden irgendwo bei armen Leuten in Pflege gegeben. Noch im Jahre 1830 ging nach einem Ausspruch des derzeitigen Bürgermeisters Trautschold die Stadt recht stiefmütterlich mit den verwaisten Bürgerkindern um. „Sie werden“, so sagte er, „bei dem Mangel an besseren Mitteln gegen ein möglichst billiges Kostgeld bei ebenso armen Leuten untergebracht und es kann mithin wohl nicht fehlen, daß sie größtenteils entsetzlich verkümmert und ver-wahrlost, ja häufig unter leichtsinnigen Pflegern zu Lastern und Schande großgezogen werden.“ Das war allerdings sehr hart und es mußte erst eine entsetzliche Epidemie unter der Einwohnerschaft wüten, ehe man sich entschloß, das Los der Waisen zu bessern.
Waisenhaus Luisen-Andenken in der Ulmenallee 50 in Westend

Waisenhaus Luisen-Andenken in der Ulmenallee 50 in Westend

Als nämlich im Jahre 1831 die asiatische Cholera Deutschland verheerend durchzog und auch in Charlottenburg ihre grausige Ernte hielt, vermehrte sich die Zahl der elternlosen Kinder beträchtlich. An die städtischen Behörden trat nun die Notwendigkeit heran, die ganze Waisenpflege auf eine höhere Stufe zu heben. Die damalige Sanitätskommission betraute mit der Waisenpflege einen besonderen Ausschuß, der der dringendsten Not durch eine schnell veranstaltete Geld- und Zeugsammlung abhalf, dann aber unter dem Einfluß Trautscholds sich dazu entschloß, ein Waisenhaus zu gründen. Damit fand er bei den städtischen Behörden tatkräftige Unterstützung. Die Stadtverordneten überwiesen ihm für das jenseits der Spree belegene und angemietete Haus der Kochschen Bleiche die nötige Einrichtung aus den Beständen des aufgelösten Cholera-Lazaretts, und am letzten Tage jenes „angst- und trauererfüllten Jahres“ konnten fünfzehn Waisenkinder, acht Knaben und sieben Mädchen eingekleidet und am Neujahrstage des Jahres 1832 in der Luisen-Kirche feierlich eingeweiht werden.
Das erste kleine Waisenhaus Charlottenburgs bestand aus einer Parterrestube nebst Kammer, in denen die Waisenmutter und die Mädchen wohnten und schliefen, einer Küche, einer Speise- und einer Rollkammer, im Giebelgeschoß aber aus einer Wohnstube und einem Schlafsaal für den Waisenvater und die Knaben, einer Kleiderkammer und einem Verschlage zur Aufbewahrung der Wäsche usw. Die Wohnstube für die Mädchen war zugleich das gemeinschaftliche Andachts- und Speisezimmer. Außerdem hatten sich die Knaben im ersten Jahre noch eine Werkstelle – ein Zimmerchen aus Holz – und zur Aufbewahrung von Vorräten einen geräumigen Erdkeller, sowie zum Speisen im Sommer eine große Laube ohne alle fremde Hilfe erbaut. Vor dem Hause befand sich ein einige Morgen großer freier Platz, der von dem Eigentümer zum Teil als Bleiche benutzt wurde, übrigens aber den Kindern als Spielplatz, zu kleinen Gärten und zum Gemüsebau überlassen war. In diesen Gärten wurden durch eigene Bestellung neben anderen Gemüsen 1 ½ Wispel Kartoffeln gewonnen. Die Frauen der Mitglieder des Kuratoriums übernahmen die Fürsorge für die Mädchen.
Das Waisenhaus führte zwar den Namen „Städtisches Waisenhaus“, wurde aber, da es von der Stadt nicht gegründet war, auch nicht von ihr unterhalten. Seitens der Stadt waren zwar für das Jahr 1832 die Miete mit 100 Thaler und für 1833 mit 111 Thalern bezahlt worden, auch wurden freilaufend die eigentlichen Beköstigungsgelder bewilligt, sie sagte sich dann aber gänzlich von der Sache los und erklärte, künftighin nur die ortsüblichen Beköstigungsgelder hergeben zu können.

Als das Waisenhaus begründet wurde, belief sich das gesammelte Geld auf rund 600 Thaler. Durch weitere Zuwendungen, darunter jedes Jahr 100 Thaler von Friedrich Wilhelm III., war das Kapital Ende 1873 auf 5.000 Thaler angewachsen. Schon im Jahre 1834 war das Waisenhaus nach der Schloßstraße 9 verlegt worden, wo bessere Räume zur Verfügung standen. Um nun der Anstalt ein bleibendes Unterkommen zu sichern, wandte sich das Kuratorium an den König und bat um ein zinsfreies Darlehn von 5.800 Thalern, das in jährlichen Raten von 200 Thalern zurückgezahlt werden sollte, was ihm auch am 14. Dezember 1837 bewilligt wurde. Mit diesem Gelde wurde das Hirsekornsche Haus an der Ecke des Kirchplatzes und der Scharrenstraße für 5 275 Thaler angekauft und am 4. April 1838 in Besitz genommen, in dessen „heiteren Räumen“ sich, wie es in dem Jahresbericht heißt, die 18 Kinder mit ihren Hauseltern „glücklich und wohl fühlten“.

Im Jahre 1798 hatte die Königin Luise im Charlottenburger Schloß einer Tochter Charlotte das Leben geschenkt, die später den Kaiser Alexander von Rußland heiratete. Diese hatte bereits einmal dem Waisenhaus eine Schenkung von 100 Dukaten übermacht. Als sie dann aber von ihrem Vater eine größere Geldsumme vermacht bekam, wies sie einen Teil dieses Betrages ihrem Geburtsort Charlottenburg zu. Ein Schreiben vom 8./20. Oktober 1840 an den Magistrat hat folgenden Wortlaut:

„Meinen lieben Geburtsort, der Stadt Charlottenburg, einen Beweis der teilnehmenden Erinnerung geben zu können, verdanke ich der Liebe meines teuren in Gott ruhenden Vaters, der mich mit einem Geldvermächtnis bedacht hat, das ich im Sinne und zum Andenken des teuren Verklärten zu verwenden beschlossen habe. In dem Herzen und in der Erinnerung der Glieder des königlichen Hauses sowohl, als des ganzen preußischen Volkes ist aber Friedrich Wilhelms und Luisens Andenken unzertrennlich und ich glaube die Absicht, ein Denkmal dauernder Erinnerung zu stiften, vollkommen dadurch zu erreichen, daß ich unter der Benennung „Luisens Andenken“ für Charlottenburger Kinder ein Waisenhaus gründe und dazu ein Stiftungskapital von 20 000 Thaler bestimme.“

Erst jetzt wurde das Waisenhaus ein städtisches im vollsten Sinne des Wortes. Nach einem neuen Statut, das am 24. April 1841 bestätigt wurde, stand das Waisenhaus unter einem Kuratorium von sechs bis zwölf Mitgliedern, die vom Magistrat bestätigt werden sollten. Die Zahl der aufzunehmenden Kinder wurde auf 24 festgesetzt und die Pflicht der Stadt festgelegt, falls die Einkünfte der Anstalt nicht ausreichen sollten, das Fehlende zuzuschießen. Die Einweihungsfeier des „Luisens An-denkens“ fand am 10. Juli 1841 statt. Im Jahre 1849 war die Zahl der Insassen auf 32 angewachsen, aber auch das Vermögen hatte zugenommen durch reiche Stiftungen. Bei ihrem Besuche in Charlot-tenburg ließ die Kaiserin Alexandra von Rußland sich die Waisenkinder vorstellen.

Grundriss des Waisenhauses Ulmenallee 50

Das Waisenhaus „Luisens Andenken“ in dem kleinen einstöckigen Hause am Kirchplatz, das noch vielen alten Charlottenburgern in der Erinnerung sein dürfte, genügte eine lange Reihe von Jahren dem Bedürfnis, wenn auch ein Teil der Waisen in Familienpflege gegeben werden mußte. Dann aber waren mit dem rapiden Anwachsen der Stadt seine Tage auch gezählt. Für einen großen Neubau eignete sich das Grundstück nicht und der Magistrat mußte die geeigneten Schritte für einen ausreichenden und allen Anforderungen entsprechendes Gebäude tun. Man verfiel auf den glücklichen Gedanken, den Kindern auf der Höhe von Westend, weitab von dem Getriebe der Großstadt, ein Heim in Luft und Sonne zu errichten, umgeben von einen weiten Garten. Magistratsbaurat Walter wurde mit dem Entwurf des Bauplans beauftragt und es gelang dem hervorragenden Baukünstler ein Werk zu schaffen, das allseitige Anerkennung fand. Im September 1905 wurde das Waisenhaus nach Westend verlegt.

Vor einigen Jahren ist auch im Anschluß an dem Bau des Bürgerhauses in der Sophie-Charlottenstraße ein weiteres Waisenhaus errichtet worden, in dem die Kinder, die schon im frühen Lebensalter die Eltern und Erzieher verloren haben, unter liebevoller Pflege und guter Erziehung einer gesicherten Zukunft entgegen geführt werden.
Auch morgen, am Weihnachtsabend, wird den Kindern in beiden Waisenhäusern der Weihnachtsbaum erstrahlen und wenn dann, von hellen Kinderstimmen gesungen, das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ emporklingt, wird Glück und Zufriedenheit unter ihnen herrschen.